Das Glockenläuten
Ding Dong
Das Läuten hallte in Klaras Kopf nach, die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf. Die Uhr der Kirche konnte durch das ganze Dorf gehört werden. Klaras Hände zitterten, der Keks, den sie gerade essen wollte, zerbröckelte leicht. Ihre braunen Augen huschten zur Uhr an ihrer Wand. Es war kurz vor Mitternacht. Der Raum war still, bis auf den Plattenspieler, der leise Weihnachtslieder trällerte. Das einzige Licht waren die stetig blinkenden Lichterketten vor ihrem Fenster. Die verschiedenen Töne von Blau, Grün und Rot ließen ihren Weihnachtsbaum bunte Schatten werfen, bevor sie wieder ausgingen, nur um wieder zu blinken. Klara grinste. Wenn man das denn einen Weihnachtsbaum nennen konnte. Sie hatte das kleine Plastikbäumchen beim Abverkauf mitgenommen, nur um nicht komplett ohne Baum dastehen zu müssen.
Ding Dong
Klara fuhr zusammen. War etwa wieder eine Minute vergangen? Sie konnte die Zeit so schlecht einschätzen. Mit einem Seufzen strich sie sich die blonden Haare aus dem Gesicht. In der Wohnung über ihr ertönte ein lautes Rumpeln. Die kleinen hielten Michael wohl wieder wach. Wobei um diese Zeit alle wach waren, keiner wagte es, zu schlafen. Michael war ein alleinerziehender Vater, er wohnte im oberen Stock. Oftmals bat er Klara darum, dass sie auf seine beiden Kinder aufpassen möge, damit er mehr arbeiten kann. Klara hatte nichts dagegen, sie brauchte das Geld und die Kinder sind nett. Meistens jedenfalls. Die ältere, Hanna, bekam Wutanfälle oder war nervig. Klara stellte Hanna dann in die Ecke. Ihre Augen huschten zu Hannas Schmollecke.
Ding Dong
Klara schickte ein schnelles Stoßgebet in den Himmel. Hanna war ein gutes Kind. Sie spielte mit den Fäden an ihrem Pullover. Klara musste doch vielleicht nur ihre Gefühle kontrollieren. Es … es war doch nicht so schlimm. Es war auch nicht Klaras Schuld, dass dieses Kind sie oft so sehr provozierte. Sie musste Konsequenzen setzen, wenn die Ecke nicht reichte. Vor ihrem Fenster fing es an zu schneien. Der Wind ließ die Fensterrahmen ihrer Altbauwohnung pfeifen.
Ding Dong
Das vierundzwanzigste Türchen ihres Adventskalenders schien sie zu verhöhnen. Der kleine Elf, der dahinter aufgedruckt war, grinste sie an. Weihnachten war schon lange nicht mehr so, wie es einmal war. Sie vermisste das Weihnachten, dass sie als Kind kannte. Voller Wärme und Geborgenheit.
Ding Dong
Keiner wusste, warum es angefangen hatte. Eines Tages, da war Klara um die fünfzehn oder sechzehn, da verschwanden am Weihnachtsabend viele Menschen. Eine Gänsehaut breitete sich auf Klaras Armen aus. Keiner wusste, was es war, oder wer es war. Es schien kein wirkliches System zu geben. Manchmal verschwanden Erwachsene, oft auch Kinder. Politiker, Millionäre, oftmals sogar jemand, den man persönlich kannte.
Ding Dong
Klara dachte an ihre Freundin aus der Schule. Carina war damals als eine der ersten Verschwunden. Die beiden hatten kurz davor eine Weihnachtsparty besucht. Klara schmunzelte. Sie hatten ihre dumme Freundin Nina einfach abgefüllt und einem der beliebten Jungs mitgegeben. Er solle mit ihr einen guten Abend haben, hatten sie ihm gesagt. Nina war kaum ansprechbar. Die beiden Mädchen fanden das ungeheuer lustig. Doch Nina ging damals zu Polizei. Ihr Blick fiel nun auf die unangerührten Kekse auf ihrem Tisch, unter dem Teller sahen mehrere Anwaltsbriefe hervor. Damals hatte Carina die Schuld von sich geschoben, Klara hatte einen schriftlichen Entschuldigungsbrief verfasst. Das war inzwischen sechs Jahre her. Sie schüttelte den Kopf, leider hatte sie vor wenigen Monaten den Fehler gemacht, Nina betrunken zu beschimpfen. Sie hatte im Streit ihre Entschuldigung von damals zurückgezogen.
Ding Dong – Ding Dong …-
Die Kirchenglocken begannen ihre zwölf Schläge. Klara schreckte hoch und saß indessen aufrecht auf ihrem Sofa. Das war doch noch keine Minute gewesen, oder? Sie war sich nicht sicher. Lautes Rumpeln vor ihrem Fenster, gefolgt von einem hellen Schrei. Klara wurde blass. Es war zu früh, viel zu früh. Sie hatten bestimmt noch- … ihre Augen huschten wieder zur Uhr. Die Flammen auf ihren Adventkerzen flackerten. Mitternacht. Klaras Atem stockte. Wieder ein Schrei. Normalerweise hörte man nur selten Schreie.
Langsam stand sie auf. Ihre Pantoffeln kratzten leise über das Parkett. Sie wollte nachsehen, ob sie etwas erkennen konnte. In der Ferne ertöne ein weiterer Schrei um Hilfe. Seit die Menschen aus Angst wach blieben, war es vermutlich schwerer geworden, sie still und leise zu holen, dachte sie. Ihre Finger legten sich auf das Fensterbrett, ihr Atem hinterließ eine kleine Wolke auf dem Glas. Die Nasenspitze an das Glas gedrückt. Die Straße schien leer. Der frische Schnee zeigte keinerlei Anzeichen darauf, dass sich jemand vor kurzem hindurch gekämpft hätte. Er glitzerte kühl im blauen Licht des Vollmondes. Ihr Herz klopfte rapide, als sie einen Schritt zurückging und einen letzten Blick auf die Straße warf. Vielleicht war es besser, nichts zu sehen.
Gerade entfernte sie sich von ihrem Fenster, da hörte sie ein Tapsen an ihrem Fenster. Klara war wie eingefroren. Das Tippen wurde noch schneller, das Geräusch von knacksendem Glas mischte sich dazu. Klara drehte sich um.
Ihr Herz schien stehen zu bleiben. Ein verzerrtes Gesicht grinste sie an. Die Augenhöhlen schienen leer, die Haut weiß wie die Schneeflocken, die in den roten Haaren hingen. Es trug grüne Kleidung, von ehemals weißen Rüschen geschmückt. Dürre, verformte Finger klopften, nein, schlugen auf ihr Fenster. Hauchdünne Risse bildeten sich. Klaras Atem stockte, sie brachte keinen Laut hinaus. Plötzlich zersplitterte das Glas. Kühle Winterluft strömte in den Raum. Die Kreatur legte den Kopf schief, das Glöckchen auf seiner grünen Mütze klimperte. Das Letzte, was Klara hörte, war ihr eigener Schrei.
Am nächsten Tag ging Michael zu Klaras Wohnung. Er mochte es nicht, wenn sie auf seine Kinder aufpasste. Seine Tochter klagte immerzu, wie weh ihr alles tat, wenn sie unter Klaras Obhut war. Letztens hatte Hanna sogar einen blauen Fleck, doch Klara hat alles abgestritten. Michael schluckte. Er muss jemand anderen finden für die Kinderbetreuung. Bald, sehr bald würde er sich eine bessere Babysitterin leisten können. Er klopfte an der Tür, diese schwang langsam auf. Eiskalte Luft schwappte ihm entgegen. Michael erschrak. Schnellen Schrittes betrat er die Wohnung. Das Wohnzimmer war leer, das Fenster zerbrochen. Alles, was er sah, war eine rote Weihnachtskugel, die im leichten Wind hin und her rollte. Mit zitternden Fingern hob er sie auf. Ein goldener Schriftzug schmückte das rote Glas.
„Unartig.“
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